Mannheim, 30. April 2021
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,
seit über einem Jahr werden die Schüler:innen des Landes Baden-Württemberg unter den Bedingungen eines Ausnahmezustands beschult. Die vergangenen Monate haben die Defizite im Bildungssystem einer der reichsten Nationen dieses Planeten deutlich gezeigt.
Fernunterricht braucht für alle Schularten
- eine existierende und funktionierende digitale Infrastruktur in den Schulen, sowie bei den Lehrkräften und Familien zu Hause
- eine verbindliche, einheitliche und datenschutzkonforme Lernplattform
- Lehrkräfte, die willens und imstande sind, digitale Medien als Instrument der Wissensvermittlung in ihrem Fernunterricht methodisch sinnvoll und altersgerecht einzusetzen
- verpflichtende Teilnahme an Weiterbildungsangeboten für die Lehrer:innen zum pädagogischen Einsatz von digitalen Lernmitteln
- die Verlässlichkeit, dass die Inhalte des Bildungsplans thematisch übereinstimmend in allen Klassen einer Stufe unterrichtet werden
- ein funktionierendes Kommunikationsnetzwerk zwischen Schulen und Elternhaus
Was erleben wir stattdessen?
- ein Hin- und Herschieben von Verantwortung zwischen Land und Schulträger
- ungleiche Bedingungen
- hinsichtlich der digitalen Ausstattung (in Schulen, für Lehrkräfte und Familien)
- hinsichtlich des Engagements der Lehrkräfte
- Herumprobieren mit unterschiedlichen Tools für den Fernunterricht (Moodle, Sdui, Schul.Cloud, BigBlueButton, Microsoft Teams, WebEx, etc.)
Bisher unbeantwortet ist die drängende Frage: „Welchen Einfluss haben wochen-, monatelange Schulschließungen und Distanzunterricht auf die Lernleistungen?“
Prof. Klaus Zierer von der Universität Augsburg hat aktuell Ergebnisse einer Meta-Analyse von Daten aus den Niederlanden, der Schweiz und den USA von März bis Mai 2020 vorgelegt. Untersucht wurden die Lernleistungen in Mathematik und der Muttersprache (Lesen, Rechtschreiben und Grammatik) in der Primarstufe. Bundesdeutsche Daten standen auf Grund des föderalen Bildungssystems nicht zur Verfügung. „In allen untersuchten Ländern haben die Schulschließungen mit Distanzunterricht zu einem negativen Effekt auf Seiten der Lernenden geführt. Der Rückgang der Lernleistungen entspricht durchschnittlich und hochgerechnet auf ein Schuljahr etwa dem Verlust eines halben Schuljahres. Er ist damit größer als die Dauer des Lockdowns selbst, weil sich die eingefangenen Lernrückstände im Lauf des Schuljahres aufgrund fehlender pädagogischer Unterstützungsmaßnahmen noch weiter verstärkten. Bei der mathematischen Kompetenz ist er ebenso feststellbar wie bei der muttersprachlichen Kompetenz und er trifft alle Lernenden – unabhängig von Alter, Geschlecht und Leistungsstand. Bemerkenswert ist, dass die negativen Auswirkungen in bildungsfernen Milieus noch stärker sind und je nach Bildungsungleichheit sogar bis zum doppelten Maß reichen können. Am meisten betroffen sind ethnische Minderheiten, sowie einkommensschwache Familien. Die Corona-Pandemie wird dadurch im Bildungsbereich zu einem Treiber von Bildungsungerechtigkeit.“ (vgl. Süddeutsche Zeitung, 15.03.2021)
Britta Ernst, die amtierende Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, will laut aktuellem FOCUS (Seite 64) „pandemiebedingten Lernrückstände (eine) hohe Priorität“ einräumen. Was darunter konkret zu verstehen ist, verrät sie nicht.
Wir Eltern wollen wissen, wo unsere Kinder stehen und fordern von der / dem zukünftigte:n Kultusminster:in sofort nach Amtsantritt
- eine genaue Erhebung der Lernleistungen aller Baden-Württembergischen Schüler:innen (zum Beispiel mit den bereits zur Verfügung stehenden Instrumenten wie VERA);
- ein schlüssiges Konzept zur Aufarbeitung der Lernrückstände unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Kinder keine Lernmaschinen sind. Für Lernbrücken oder Sommerferien-Angebote brauchen die Kinder einen Anreiz, eine Motivation. Wissensvermittlung in den Ferien muss ihnen Spaß machen, ansonsten hat das beste Angebot überhaupt keinen Sinn;
- sofortiges Angebot von Schulsozialarbeit an allen Schulen. Viele Kinder leiden unter der Isolation, unter beengten Wohnverhältnissen, erleben häusliche Gewalt;
- eine gemeinsame Kommunikationsplattform von Schule und Elternhaus, auch in Form eines niederschwelligen Angebots in einfachen und verständlichen Sprachen. Sie wissen sicherlich, dass im Augenblick unzählige ehrenamtliche Elternvertreter:innen Informationen aus Ihrem Haus an die Eltern der Schulen verteilen. Sie benutzen dazu private Endgeräte, E-Mail-Konten und Internetverbindungen. Ohne diese kurzen, unbürokratischen, privaten Wege kämen Informationen aus Ihrem Haus niemals von Freitagnachmittag bis Sonntagabend bei den Familien an.
Sehr geehrte (zukünftige) Frau Kultusministerin,
sehr geehrter (zukünftiger) Herr Kultusminister,
wir wünschen uns von Ihnen mehr Gehör und Transparenz.
Im Augenblick ist das Kultusministerium für die allermeisten von uns ein Elfenbeinturm ohne Türen und Fenster. Die Schüler:innen aber sind unsere Kinder. Wir wollen sie einem Bildungssystem anvertrauen können, dass ihnen allen eine gute Ausbildung garantiert.
Die Bildung ist der wesentliche Baustein auf dem Weg hin zu einer besseren Gesellschaft, mit ökologischer Verantwortung, individueller Selbstbestimmung, umfassender Gerechtigkeit und lebendiger Demokratie.
Wir räumen Ihnen einen Vertrauensvorschuss ein und freuen uns auf den Dialog mit Ihnen!
Mit freundlichen Grüßen
Gesamtelternbeirat² der Stadt Mannheim
gez. Thorsten Papendick | gez. Nadine Sabra |